Gucken Sie sich mein Bein nochmal an, morgen wird es weg sein

Chirurgie der Sana Klinik Düsseldorf
Zanda Martens

„Gucken Sie sich mein Bein nochmal an, morgen wird es weg sein“, sagt ein Patient mit amputiertem Unterschenkel, bevor ihm am nächsten Morgen auch das zweite Bein amputiert wird.

Verzweifelter Zynismus oder zynische Verzweiflung – auf der chirurgischen Station der Sana Klinik gehören Amputationen leider zum Tagesgeschäft. Das habe ich gleich zu Beginn gemerkt, als die Spät- auf Nachtschicht übergab
und die Krankenpfleger:innen die Liste von Patienten besprachen. „Warmes Bein“ klingt jetzt in meinen Ohren nach Rettung!

Ich durfte eine Nachtschicht von 21.00 Uhr bis 06.20 Uhr in der Chirurgie begleiten. Als ich erfahren habe, dass für 40 Patienten 2 Krankenpflegekräfte im Einsatz sein sollten, habe ich das zunächst nicht glauben wollen.
Aber 1 Pflegekraft pro 20 Patienten in der Nacht – das bedeutet Pflegeuntergrenze und ist somit völlig in Ordnung. Und es waren auch zwei Pflegekräfte da. Immerhin war keiner krank, sonst versorgt schon mal eine Pflegekraft auch alle 40 Patienten!

Das Team, ein Kollege von der Zeitarbeit und eine festangestellte Krankenschwester, die 35-jährige J., nahm mich so offen und herzlich in ihre Obhut, als ob wir uns schon ewig kennen würden. Bei allem Zeitdruck nahm sich die Krankenschwester die ganze Nacht lang Zeit nicht nur für die Patienten, sondern auch für mich. Sie hat mir viel und authentisch über ihre Allnacht erzählt und mehr gezeigt, als ich es je erwartet hätte. Sie stellte mich den Patienten als Praktikantin vor und so durfte ich ohne weitere Nachfragen in jedes Zimmer mit.

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Was ich mich als erstes fragte – Zeitarbeit? Die Krankenhäuser brauchen doch dauerhaft mehr Personal, wieso denn Zeitarbeit als Überbrückung für kurzfristige Engpässe? Weil Zeitarbeit attraktiver ist – sowohl für die Kliniken als auch für viele der Beschäftigten, die in der Zeitarbeit mehr verdienen und flexibler sind. Aber ich frage mich doch, was für ein krankes System - wir investieren unsere Krankenkassenbeiträge und Gesundheitsbudgets lieber nicht direkt in die Beschäftigten, sondern finanzieren auch noch das Management und die Gewinne von Zeitarbeitsfirmen. Warum?

Ein anderes „warum“, was mir direkt durch den Kopf schoss – warum müssen Krankenhäuser solche Müllberge produzieren? Ich konnte mir schon vorstellen, dass allein das viele sterilitätsschützende Verpackungsmaterial und der medizinische Abfall ordentlich Müll verursacht. Dass man aber aus einer metallenen Schere ein Einwegprodukt macht, das einmal aus der Plastikverpackung entnommen, einmal benutzt und sofort als Sondermüll ohne Möglichkeiten der Weiternutzung oder des Recyclings weggeworfen wird, ist doch der blanke Wahnsinn! Man könnte sie doch alle ordentlich desinfizieren und wieder benutzen? Ich ahne die Antwort: zu teuer!

Zu teuer für die privaten Kliniken ist natürlich auch das Personal, und so schwer zu finden. So war es pures Glück, dass letzte Nacht keine Notfälle reinkamen und die zwei nicht nur dafür sorgen konnten, dass jeder Patient seine Medikamente und was zu trinken bekam. Ich konnte auch noch mal verfolgen und begreifen, wie wichtig die Zeit zum Zuhören ist, die wichtigen vermeintlich unwichtigen Gespräche mit den Patienten, das Scherzen, das Aufmuntern.
Ein alter Herr hat Schwierigkeiten, die großen Tabletten herunterzuschlucken. Er sagt nichts dem Personal, bittet stattdessen seine Frau, ihm eine Zange von Zuhause mitzubringen, womit er die Tabletten selbst zerkleinern kann. Er bittet die Krankenschwester, kurz stehen zu bleiben, bis er seinen Nachtschrank durchsucht hat und stolz die Zange präsentiert. In vielen Nächten hätte man keine Zeit gehabt, dem Herrn seinen stolzen Moment zu gönnen.

Obwohl die ganze Nacht ruhig bleibt, klingelt es regelmäßig aus vielen Patientenzimmern. Jemand muss zur Toilette und braucht Hilfe, jemand hat es nicht soweit geschafft und braucht einen Waschlappen und eine saubere Hose, jemand will mehr Schmerztabletten, jemand mehr Schlaftabletten, eine Frau will gar keine Tabletten nehmen. Jemandem ist es zu kalt, jemand hat seine Decke heruntergeworfen. Jemand will trotz amputierter Beine selbst aufstehen, jemand ist leicht verwirrt und fest davon überzeugt, morgen einen wichtigen Termin zu haben. Und eine rüstige Frau erzählt mitten in der Nacht, dass sie 95 ist und sich fest vorgenommen hat, es mindestens bis 100 zu schaffen. Sie lacht so ansteckend, die Zimmernachbarin lacht mit und die Krankenschwester hat nicht nur Lust, sondern sogar ein wenig Zeit, um auf diese Gespräche einzugehen. Wie oft beteuert sie auf Bitten der Patient:innen in dieser Nacht, dass sie doch dafür da sei! Um zu helfen, zu unterstützen, zu beruhigen und zu trösten.

Es ist schon ein wahnsinniger Job! Ich hätte dafür weder die Kompetenz, noch die Nerven, noch die Geduld. Sollte ich aber irgendwann selbst in einem Krankenbett landen, möchte ich J. und ihre Kolleg:innen an meinem Bett wissen.
Man kann nur von Glück reden, dass wir überhaupt noch Menschen haben, die nicht verzweifeln und weitermachen, so wie beispielhaft J., die sich nur für die Nachtdienste meldet. Und ich bin so froh, dass viele Kolleg:innen immer noch so engagiert sind.

Anders kann man es sich nicht erklären, wenn man nebenbei erfährt: pünktlich zu Beginn meiner Nachtschicht endete im Krankenhaus eine Bürgerversammlung zum Thema Neubau einer Pflegeschule. Die Bürger:innen versammelten sich, um dem Himmel zu danken, dass in ihrer Nähe mehr Pflegekräfte ausgebildet werden können? Nein, im Gegenteil - sie organisieren einen Protest gegen diesen Neubau! Ganz nach dem Motto, die Pflege hätte ich schon gerne, aber keine Neubauten direkt vor meiner Vorstadtvilla! Wie kann man dabei nicht an der Menschheit verzweifeln?

In einer ruhigen Minute haben wir auch über die Arbeitsbedingungen in der Pflege gesprochen, über die Ausbildung, über die Bezahlung, die verbessert werden muss, weil die Arbeit so wichtig ist, und das Streikrecht. Und auch darüber, was ich als Bundestagsabgeordnete so mache. Mietrecht? Oh ja, die Mieten müsste man sich auch als eine Krankenschwester in Düsseldorf leisten können! Das können viele nicht - das möge ich doch bitte mit nach Berlin nehmen? Mache ich, liebe J., und nicht nur das nehme ich aus dieser Nacht mit. Vielen Dank, dass Du Deine kostbare Zeit mit mir geteilt hast!

Vielen Dank, Iris Hansen, dass du dir mit schweren Fotokameras um den Hals die Nacht mit mir um die Ohren geschlagen hast!

Mehrere hunderttausend Menschen in Nordrhein-Westfalen arbeiten, wenn alle anderen schlafen. In der Nachtarbeit werden zentrale Aufgaben unserer Gesellschaft verrichtet. Sie fällt dort an, wo Menschen in Not sind, man sich um andere kümmert, die Produktion nicht stillstehen darf, Sicherheit organisiert oder für alle anderen der Start in den Tag vorbereitet wird.

Wir reden viel zu wenig über diese Arbeit und die Menschen, die sie verrichten. Das wollen wir ändern und schauen genauer hin: Hinter die Kulissen und in die Gesichter der Arbeit bei Nacht.

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Ein Projekt der SPD
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